Kim de l’Horizon

De Zwitserse, genderfluïde niet-binaire dichter en schrijver Kim de l’Horizon werd geboren op 9 mei 1992 in Ostermundigen, Haar debuutroman “Blutbuch” werd in 2022 bekroond met zowel de Deutscher Buchpreis als ook de Schweizer Buchpreis. Kim de l’Horizon ging naar de middelbare school in Winterthur en studeerde vanaf 2012 Duits, film- en theaterwetenschappen aan de universiteiten van Zürich en Bern. Daarna volgde een studie literair schrijven aan het Literatuurinstituut in Biel met een bachelorsdiploma in 2020. Zij schreef zich vervolgens in voor de masteropleiding Transdisciplinarity aan de Hochschule der Künste in Zürich. De l’Horizon is lid van de redactie van het literaire tijdschrift delirium. In 2017 werd voor het theatercollectief “e0b0ff” de bewerking “Wie eine Barke das Meer aus Testosteron durchpflügen” gemaakt, gebaseerd op het verhaal “Putas Asesinas” (Moorddadige hoeren) van Roberto Bolaño; Kim de l’Horizon trad daarin zelf op en was ook verantwoordelijk voor de kostuums. In het seizoen 2021/2022 nam de l’Horizon de rol van huisauteur op zich in het financieringsprogramma “Stück Labor” van de theaters van Bern. Zij is sinds 2023 columniste voor Tages-Anzeiger/Der Bund. De l’Horizon won verschillende prijzen. Ook ontving zij van de Ernst Göhner Stichting een beurs voor kunstenaars in opleiding. In een fictieve biografie vermeldt Kim de l’Horizon het geboortejaar 2666, wat werd geïnterpreteerd als een toespeling op Bolaño’s roman 2666. In 2022 ontving De l’Horizon de Literatuurprijs van de Jürgen Ponto Foundation en de Deutscher Buchpreis voor zijn debuutroman “Blutbuch”.

Uit: Blutbuch

„Beispielsweise habe ich „es“ dir nie offiziell gesagt. Ich kam einfach mal geschminkt zum Kaffee, mit einer Schachtel Lindt & Sprüngli (der mittelgrossen, nicht der kleinen wie üblich), oder dann später in einem Rock zum Weihnachtsessen. Ich wusste, oder nahm an, dass Mutter es dir gesagt hatte. „Es. Sie hatte „es“ dir sagen müssen, weil ich „es“ dir nicht sagen konnte. Das gehörte zu den Dingen, die mensch sich nicht sagen konnte. Ich hatte „es“ Vater gesagt, Vater hatte „es“ Mutter gesagt, Mutter muss »es« dir gesagt haben.
Andere Dinge, über die wir nie sprachen: Mutters riesiges Muttermal auf dem linken Handrücken, die Schwere, die Vater — wenn er von der Arbeit heimkam — ins Haus schleppte; wie einen immensen, nassen, vermodernden toten Hirsch ins Haus schleppte; dein lautes Schmatzen, deinen Rassismus, deine Trauer, als Grossvater starb; deinen schlechten Geschmack, wenn es um Geschenke geht; die Liebhaberin, die Mutter hatte, als ich etwa sieben war, den silbrigen Ohrenring, den Mutter von ihrer Liebhaberin zum Abschied bekommen hatte, der wie eine lange Träne von Mutters Ohrläppchen bis fast an ihr Schlüsselbein reichte, als sie ihn noch anzog, um Vater zu provozieren; die unzähligen Stunden, die ich damit verbrachte — wenn ich mich unbeobachtet fühlte —, den Ohrenring von einer Hand in die andere gleiten zu lassen, den Ohrenring so in die Sonne zu halten, dass er flammende Muster an die Wände warf, meine unendliche Lust, diesen Ohrenring anzuziehen, meine unsägliche innere Stimme, die mir das verbot, meinen unendlichen Wunsch, einen Körper zu haben, Mutters unbändigen Wunsch, durch die Welt zu reisen. Wir sprachen nie über Politik oder Literatur oder die Klassengesellschaft oder Foucault oder darüber, dass Mutter die Matur auf dem zweiten Bildungsweg abbrach, als ich auf die Welt kam. Wir sprachen nie darüber, dass du einen Bart gekriegt hast, als du mit Mutter schwanger warst, dass das »Hirsutismus« heisst, wir sprachen nie darüber wie du das behandelt hast, ob du dich rasiert, gewachst oder die dunklen Haare mit der Pinzette ausgerissen hast, ob du Antiandrogene nimmst, um das Testosteron — das dein Körper »im Übermass produziert« — zu unterbinden, und wir sprachen nie darüber, wie du angeschaut wurdest, wie sehr du dich geschämt haben musst, wir sprachen sowieso nie über Scham, nie über den Tod, nie über deinen Tod, nie über deine wachsende Vergesslichkeit, wir sprachen sehr oft über die Familienalben und über jedes einzelne der Bilder darin, allerdings sprachen wir nie darüber, wie lächerlich Grossvater auf diesen Fotos aussieht, die er mit seiner Burschenschaft aufgenommen hat, wie komisch sie ihre Brust plustern und breitbeinig in die Kamera grinsen; wir haben nie über das Mädchen gesprochen, das bis zu einem gewissen Alter durch die Fotoalben geistert, meistens an deiner Hand, manchmal an einer der Hände deiner fünf Brüder, nein, wir haben nie darüber gesprochen, wohin diese jüngste Schwester namens Irma verschwunden ist.“

 

Kim de l’Horizon {Ostermundigen, 9 mei 1992)

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