De Zwitserse schrijver en dramaturg Lukas Bärfuss werd geboren op 30 december 1971 in Thun. Lukas Bärfuss verliet de lagere school na negen jaar en werkte als een tabaksboer, ijzervlechter en tuinman. Later werkte hij in een gezamenlijk beheerde boekhandel, waardoor hij de weg naar het schrijven vond. Sinds 1997 werkt hij als freelance schrijver en docent aan het Zwitserse literatuurinstituut in Biel. Hij was ook een dramaturg in het Schauspielhaus Zürich van 2009 tot 2013. Bärfuss was mede-oprichter van de kunstenaarsgroep «400asa». Hiervoor schreef hij verschillende toneelwerken, zoals het ironische ‘Groteske’ genoemde “Meienberg’s dood” over de journalist Niklaus Meienberg en de hypocrisie van de culturele sector, waarmee hij in 2001 bekend werd. Hij had met name succes met het toneelstuk “Die sexuellen Neurosen unserer Eltern”, geschreven voor het Theater Basel, dat in 2005 in twaalf talen werd vertaald. In 2009 ging zijn stuk “Öl” over de afhankelijkheid van de belangrijkste grondstof van het industriële tijdperk in het Deutsches Theater Berlin in première. In 2010 ging zijn toneelstuk “Malaga”in première in het Schauspielhaus Zürich. In 2012 volgde “Zwanzigtausend Seiten.” Zijn eerste boek, de novelle “Die toten Männer” verscheen in 2002. In 2008 verscheen zijn roman “Hundert Tage” die gaat over de genocide in Rwanda en de rol van ontwikkelingshulp. In de roman “Koala” uit het jaar 2014 behandelt Bärfuss de zelfmoord van zijn broer. In oktober 2015 leidde Bärfuss een controversieel debat in Zwitserland aan toen hij in de FAZ het essay “Die Schweiz ist des Wahnsinns” publiceerde. In deze tekst beschrijft hij zijn visie op de politieke, culturele en economische ontwikkelingen in zijn thuisland. In 2017 stond Bärfuss met zijn roman “Hagard” op de shortlist voor de Preis der Leipziger Buchmesse.
Uit: Hundert Tage
“Sieht so ein gebrochener Mann aus, frage ich mich, als ich ihm gegenübersitze und draußen der Schnee einsetzt, der seit Tagen erwartet wird und nun in feinen Flocken auf die grünbraunen Felder und in den Nachmittag fällt. Was genau gebrochen sein könnte, ist schwierig zu sagen – das Rückgrat jedenfalls nicht. Er sitzt aufrecht, wählt seine Worte mit Bedacht und ohne Hast, wirkt beinahe entspannt. Nur wie er die Tasse zum Mund führt, gemächlich, ein wenig zu gemächlich, zu geführt, könnte ein Hinweis auf seine innere Zerrüttung sein. Vielleicht fürchtet er, ein verschütteter Tropfen könnte ihn aus dem Gleichgewicht bringen. Ich weiß, ich müsste nicht mutmaßen, denn er ist ein gebrochener Mann, muss einer sein, nach allem, was er erzählt und – was noch wichtiger ist – nach allem, was er mir verschweigt. Manchmal hält er in seiner Rede inne, oft mitten im Satz. Ich sehe in seinen Augen, wie er sich erinnert, nur erinnert und nicht spricht, vielleicht, weil er keine Worte dafür hat, sie noch nicht gefunden hat und wohl auch nicht finden will. Es scheint, als würden seine Augen den Ereignissen folgen, den Ereignissen in Haus Amsar, wo er die hundert Tage verbracht hat. Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass gerade er sie erlebt hat, einer, der nicht dazu bestimmt schien, irgendetwas zu erfahren, das über das gewöhnliche Maß menschlicher Katastrophen hinausgeht: eine üble Scheidung, eine schwere Krankheit, ein Wohnungsbrand als Äußerstes. Aber ganz gewiss nicht, in die Wirren eines Jahrhundertverbrechens zu geraten. Nicht dieser Mann, nicht David Hohl, der mit mir zur Schule gegangen war und in dem ich noch den hoch aufgeschossenen Knaben erkenne, mit seiner leicht hängenden Unterlippe, von der sich, wenn ihn etwas zum Staunen bringt, ein Speichelfaden zu lösen scheint, obwohl das natürlich nie eintritt. Bloß ein wenig feucht ist diese Lippe, der man deutlicher als anderen ansieht, was Lippen tatsächlich sind, nach außen gestülpter Mundinnenraum nämlich. Als Kind war er kein Draufgänger, hat niemals größeren Ärger riskiert, nicht aus Feigheit – die meisten Abenteuer und Mutproben schienen ihm einfach nicht lohnenswert. Ein durch und durch besonnener Bursche – abgesehen von seinen drei, vier Anfällen, aber die liefen außer Konkurrenz, einfach weil sie so selten vorkamen und man sich erst an den letzten erinnerte, als David schon erblasste, verdächtig still wurde, um gleich darauf rot anzulaufen und seine Flüche hervorzupressen und eine Schandrede auf die Ungerechtigkeit der Welt anzustimmen, in Worten, die man einem Jungen von zehn, zwölf Jahren nicht zugetraut hätte. Er besaß ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, um es vorsichtig auszudrücken, und es schien losgelöst von jener Vernunft zu funktionieren, die ihn sonst auszeichnete, keine Folge einer durchdachten Weltsicht zu sein, sondern reine Empfindung, ein Affekt. Ich erinnere mich, wie er sich von ein paar Kerlen aus den oberen Klassen windelweich prügeln ließ, bloß weil er zufällig gehört hatte, wie sie sich abfällig über einen Mitschüler ausließen, und er der Ansicht war, so etwas gehöre sich nicht.“