International Booker Prize voor Jenny Erpenbeck
De Duitse schrijfster en filmregisseur Jenny Erpenbeck heeft gisteren de International Booker Prize gekregen voor haar roman “Kairos”. De roman vertelt een destructief liefdesverhaal in de laatste dagen van de DDR. Ook haar vertaler Michael Hofmann ontving de onderscheiding. Erpenbeck is de eerste Duitse vrouw die de prijs wint en Hofmann is de eerste mannelijke vertaler die de prijs ontvangt. Het prijzengeld van 50.000 pond (zo’n 58.000 euro) wordt gelijkelijk verdeeld tussen Erpenbeck en Hofmann. Zie ook alle tags voor Jenny Erpenbeck op dit blog.
Uit: Kairos
„Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks, habe, so heißt es, vorn über der Stirn eine Locke, einzig an der kann man ihn halten. Ist aber der Gott erst einmal auf seinen gefl ügelten Füßen
vorübergeglitten, präsentiert er einem die kahle Hinterseite des Schädels, blank ist die und nichts daran ist mit Händen zu greifen.
War der Augenblick ein glücklicher, in dem sie damals, als neunzehnjähriges Mädchen, Hans traf? An einem Tag Anfang November setzt sie sich auf den Fußboden und beginnt, Blatt für Blatt, Mappe für Mappe, den Inhalt des ersten, dann des zweiten Kartons durchzusehen. Im Grunde genommen ist es ein Trümmerfeld. Die ältesten Aufzeichnungen sind aus dem Jahr 86, die jüngsten von 92. Briefe findet sie und Durchschläge von Briefen, Notizen, Einkaufszettel, Jahreskalender, Fotos und Negative von Fotos, Postkarten, Collagen, hier und da einen Zeitungsartikel.
Ein Stück Zucker aus dem Café Kranzler zerbröselt ihr in den Händen. Gepresste Blätter fallen zwischen Seiten heraus, Passfotos sind mit Büroklammern an Seiten geheftet, in einer Streichholzschachtel steckt ein Büschel Haare.
Auch sie hat einen Koffer mit Briefen, Durchschlägen von Briefen und Erinnerungsstücken, Flachware das meiste davon, wie das in der Sprache der Archive heißt. Hat ihre Tagebücher und Kalender. Am nächsten Tag steigt sie auf die Bücherleiter und holt den Koffer aus dem obersten Fach, staubig ist der, außen und innen. Vor langer Zeit haben die Papiere, die aus seinen Kartons
und die aus ihrem Koffer, einen Dialog miteinander geführt. Jetzt führen sie einen Dialog mit der Zeit. In so einem Koffer, in so einem Karton, liegen Ende, Anfang und Mitte gleichgültig miteinander im Staub der Jahrzehnte, liegt das, was zum Täuschen geschrieben wurde, und das, was als Wahrheit gedacht war, das Verschwiegene und das Beschriebene, liegt all das, ob es will oder nicht, eng ineinander gefaltet, liegt das sich Widersprechende, liegen der stummgewordene Zorn ebenso wie die stummgewordene Liebe miteinander in einem Umschlag, in ein und derselben Mappe, ist Vergessenes genauso vergilbt und zerknickt wie das, woran man sich noch, dunkel oder auch hell, erinnert. Katharina ¬muss, während ihre Hände beim Durchsehen der alten Mappen auch staubig werden, daran denken, wie ihr Vater bei ihren Kindergeburtstagen immer als Zauberer auftrat. Einen ganzen Stoß Spielkarten hatte er in die Luft geworfen und dann aus den herumfliegenden Karten doch die eine herausgezogen, die sie oder eines der anderen Kinder sich vorher gemerkt hatte.“