De Turkse schrijver Orhan Pamuk werd geboren op 7 juni 1952 in Istanbul. Zie ook alle tags voor Orhan Pamuk op dit blog.
Uit: Istanbul (Vertaald door Gerhard Meier)
„Durch die fortwährenden Konkurse meines Vaters und meines Onkels, die Streitereien meiner Eltern und die Zwistigkeiten, die sich immer wieder zwischen unserer Kleinfamilie und dem von meiner Großmutter präsidierten Familiengroßverband ergaben, wurde mir allmählich beigebracht, daß das Leben nicht nur aus freudigen Ereignissen und immer neu sich auftuenden Glücksquellen (Malen, Sexualität, Freundschaft, Schlaf, Geliebtwerden, Essen, Spielen, Beobachten) bestand, sondern auch aus einer ganzen Anzahl urplötzlich ausbrechender kleinerer und größerer Katastrophen. In meiner Kindheit wurde am Radio nach den Nachrichten und dem Wetterbericht immer mit ernster Stimme nicht nur den betroffenen Seeleuten, sondern ganz Istanbul verkündet, auf welchem Längen und Breitengrad an der Mündung des Bosporus ins Schwarze Meer Treibminen gesichtet worden seien, und so heimtückisch wie diese Minen waren auch die Katastrophen, die den Menschen jederzeit völlig überraschend ereilen konnten. Es konnte jeden Augenblick zwischen meinen Eltern ein Streit ausbrechen, mit dem Stockwerk über uns eine finanzielle Auseinandersetzung aufflammen oder mein Bruder über irgend etwas so in Zorn geraten, daß er mir eine gehörige Lektion erteilen wollte. Oder mein Vater kam eines Tages nach Hause und teilte uns im selben Ton, in dem er eine Reise erwähnt hätte, seelenruhig mit, daß unsere Wohnung verpfändet worden sei und wir nun umziehen müßten. Wir zogen damals oft um. Bei jedem Umzug stieg die Spannung im Haus an, und meine Mutter, vollauf damit beschäftigt, jeden Teller und jede Schüssel einzeln in Zeitungspapier einzuwickeln, konnte auf uns Kinder nicht so achtgeben wie sonst, so daß wir nach Herzenslust spielen durften.
Wenn dann die Büfetts, Schränke und Tische, die uns als unverrückbare Elemente unserer Wohnszenerie gegolten hatten, von den Möbelpackern nach und nach abtransportiert wurden, blickte ich traurig auf die immer leerer werdenden Räume, in denen wir Jahre unseres Lebens verbracht hatten, aber ein Trost war mir, daß ich meist unter irgendeinem Möbel einen längst vergessenen Stift, eine Murmel oder ein geliebtes Spielzeugauto wiederfand.“
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