De Duits-Iraanse schrijver en islamist Navid Kermani werd geboren op 27 november 1967 in Siegen. Zie ook alle tags voor Navid Kermani op dit blog.
Uit: Der Schrecken Gottes
„Sie mahnen – nicht mehr, aber zu unserem gelegentlichen Verdruß auch nicht weniger. Das ist die Religiosität, die sich mir als Kind eingeprägt hat, und so deutlich ich wahrnehme, welches Unheil heute gerade aus dem Islam erwächst, vergesse ich doch die Menschen nicht,
Denn es ist ihresgleichen nicht im Lande die mir bis heute die Tugend zum Vorbild geben, meinen Großvater zum Beispiel, der den getuschelten Spott seiner jungen, frechen Töchter ertrug, wenn er vor ihnen das Gebet der Großfamilie leitete. In seinen Memoiren hielt er als erstes stolz die Anekdote fest, wie unser Urgroßvater, ein hochangesehener Theologe, sich im Wortsinn schützend vor die Bahais in Isfahan gestellt hat, als andere Mullahs den Mob losließen; Anfang des letzten Jahrhunderts muß das gewesen sein. Mein Großvater ist als Großbürger überzeugter Demokrat gewesen und als Vertreter der Isfahaner Notabeln in den vierziger Jahren eigens nach Teheran gefahren – keine kurze Strecke damals –, um dem verblüfften Oppositionsführer Mossadegh mitzuteilen, daß er seinen Kampf gegen die Monarchie gutheiße. Liberal jedoch, wie wir es verstehen, war mein Großvater nicht, vielmehr ein konservativer Mann von orthodoxem Ernst, das Lob Gottes beständig auf den Lippen und mit strengen moralischen Ansprüchen an sich und seine Nächsten. Wenn er, der selbst an einer Theologischen Hochschule in Isfahan studiert hatte, den Kleingeist der Straßenprediger wie der Staatstheologen verächtlich machte, dann fühlte er sich nicht dem Geist der westlichen Aufklärung und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verpflichtet, sondern dem größten Geist, dem des Allmächtigen.
Da ist der Herr Ingenieur Kermani, der Mann meiner Tante Eschrat, der uns mit dem Backgammon auch das Beten lehrte, ein Kettenraucher vor dem Herrn, der seine immense Körpermasse am liebsten in Kleidung vom Stile Gamal Abdel Nassers zwang, jenen hellbraunen oder hellblauen Baumwollanzügen, bei denen die Jacke zugleich Hemd ist. Herr Ingenieur – den Titel,«Herr Ingenieur», vergaß ich selbst dann nicht zu nennen, wenn ich zu mir selbst sprach –,Kermani war eine wirklich imposante Erscheinung, der dickste und größte unter meinen Verwandten, den riesig-runden Schädel kahl und mit goldenem Vorderzahn im häufig lachenden Mund.”
Navid Kermani (Siegen, 27 november 1967)