De Oostenrijkse schrijfster Margit Schreiner werd geboren op 22 december 1953 in Linz. Zie ook alle tags voor Margit Schreiner op dit blog.
Uit: Heißt lieben
„Sie selbst haben eine lebensbedrohende, ansteckende Krankheit, unsere Bedenken tun sie aber mit einem Lachen ab. Es sei doch verrückt anzunehmen, sagen sie, daß sie ihr eigenes Enkelkind anstecken würden. Auf diese Weise zwingen sie uns, sie anzulügen. Aus reinem Selbsterhaltungstrieb.
Unsere Tochter habe leider Scharlach bekommen, sagen wir unserer Mutter eine Woche vor Weihnachten am Telephon, weil wir nicht sagen wollen, daß wir mit einem Kleinkind niemanden besuchen, der sich nicht über die Gefährlichkeit und die Ansteckungsgefahr seiner Krankheit im klaren ist. Gegen Scharlach hat unsere Mutter keine Chance. Es gibt eine gesellschaftliche Übereinkunft, ein scharlachkrankes Kind nicht mit dem Zug weißgottwohin zu transportieren. Aber Schuldgefühle bleiben zurück. Weil wir die Mutter angelogen haben. Zu all den Lügen, mit deren Hilfe wir es am Ende doch noch geschafft haben, halbwegs erwachsen zu werden, ist eine weitere dazugekommen. Lügen haben immer Lügen zur Folge. Oder Anpassung. Da wir nicht jedes Jahr eine andere Kinderkrankheit erfinden können, die uns daran hindert, mit unseren Kindern und Müttern gemeinsam Weihnachten zu feiern, geben wir nach.
Zu Weihnachten fahre ich, obwohl ich krank bin, mit meiner Tochter zu meiner Mutter. Ich rufe die Mutter vorher mehrmals an und will den Besuch verschieben, da ich stark huste und Antibiotika nehmen muß. Seit dem Tod des Vaters huste ich jedes Jahr im Winter und muß dann Antibiotika nehmen. Jedenfalls will ich meine Mutter nicht anstecken und auch mich selbst will ich schonen. Die lange Anreise von der Stadt, in der ich mich angesiedelt habe, weil es mich immer schon möglichst weit von meiner Geburtsstadt weggezogen hat, mit einer siebenjährigen Tochter, ist anstrengend. Aber die Mutter reagiert, wie ich es ohnehin erwartet habe. Ich habe mich, sagt die Mutter, schon so auf das gemeinsame Weihnachtsfest gefreut und Kekse habe ich auch schon gekauft und den Weihnachtsbaum und eine tiefgefrorene Gans.“
Margit Schreiner (Linz, 22 december 1953)