Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2009 voor Claudio Magris

 

Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2009 voor Claudio Magris

Aan de Italiaanse schrijver en vertaler Claudio Magris werd gisteren in de Frankfurter Paulskerk de Friedenspreis des Deutschen Buchhandels uitgereikt. Claudio Magris werd geboren op 10 april 1939 in Triëst. Zie ook alle tags voor Claudio Magris op dit blog.

Uit: Blindlings (Vertaald door Ragni Maria Gschwend)

“Mein lieber Cogoi, ehrlich gesagt, ich bin mir nicht sicher, obwohl ich es selber geschrieben habe, daß niemand das Leben eines Menschen besser erzählen könne als er selbst. Natürlich hat dieser Satz ein Fragezeichen; ja, wenn ich mich recht erinnere – inzwischen sind so viele Jahre vergangen, ein Jahrhundert, die Welt hier herum war jung, ein taufrischer grüner Morgen, aber sie war schon ein Gefängnis –, habe ich als erstes genau dieses Fragezeichen gesetzt, das alles hinter sich herzieht. Als mich Doktor Ross aufforderte, jene Seiten für das Jahrbuch zu schreiben, hätte ich große Lust gehabt – und das wäre ehrlich gewesen –, ihm einen Stapel Blätter mit nichts als einem Fragezeichen drauf zu schicken, aber ich wollte nicht unhöflich sein, ausgerechnet ihm gegenüber, der im Unterschied zu den anderen so freundlich und wohlwollend ist; außerdem wäre es nicht angebracht gewesen, jemanden zu verärgern, der dich aus einem geschützten Winkel, wie die Redaktion des Almanachs der Strafkolonie, herausholen und in die Hölle von Port Arthur expedieren kann, wo du es mit der neunschwänzigen Katze auf den Buckel kriegst, sobald du dich, erschöpft von den Steinblöcken und dem eiskalten Wasser, auch nur für einen Augenblick auf den Boden setzt.
Also habe ich vor dieses Fragezeichen lediglich den ersten Satz geschrieben und nicht mein ganzes Leben, meines, seines oder wessen auch immer. Das Leben – pflegte unser Grammatiklehrer Pistorius zu sagen, wobei er die lateinischen Ausdrücke mit runden, gemessenen Gesten begleitete, in jenem Raum mit der roten Tapete, die sich am Abend verdüsterte und erlosch: Glut der Kindheit, die im Dunklen verglomm –, das Leben ist keine Proposition oder Assertion, sondern eine Interjektion, eine Interpunktion, eine Konjunktion, im Höchstfall ein Adverb. Jedenfalls nie eine der sogenannten Hauptwortarten – »Sind Sie sicher, daß er das so gesagt hat?« – Ach, Herr Doktor, mag sein, daß gar nicht er diese letzte Behauptung aufgestellt hat, sondern die Lehrerin Perich, nachmalig Perini, in Fiume, aber das war später, sehr viel später.
Übrigens kann diese anfängliche Frage nicht ernst genommen werden, enthält sie doch bereits ihre Antwort, genauso wie die Fragen, die den Gläubigen mit erhobener Stimme in einer Predigt gestellt werden. »Wer kann das Leben eines Menschen besser erzählen als er selbst?« Natürlich niemand, scheint man die Gläubigen als Antwort murmeln zu hören. Wenn ich mir etwas angewöhnt habe, dann sind es die rhetorischen Fragen, seit ich im Gefängnis von Newgate die Predigten für Reverend Blunt schrieb, der mir für jede einen halben Shilling zahlte, inzwischen mit der Wache Karten spielte und darauf wartete, daß ich dazukäme, um mitzuspielen, und so holte er sich oft seinen halben Shilling wieder – das war nichts Verwunderliches, schließlich saß ich auch deswegen ein, weil ich alles beim Glücksspiel verloren hatte.“

 

 
Claudio Magris (Triëst, 10 april 1939)