Volker Jehle

De Duitse schrijver, literatuurcriticus en redacteur Volker Jehle werd geboren op 23 december 1954 in Balingen. Jehle bracht zijn jeugd- en schooljaren door in Ebingen (tegenwoordig: Albstadt). Hij studeerde Duits, Algemene en Vergelijkende Literatuurwetenschap, Slavische talen en musicologie aan de universiteiten van Regensburg, Tübingen, Wenen, Mainz, Bamberg. De Master of Arts behaalde hij in 1983 in Mainz. Hij promoveerde in 1990 in Tübingen bij Walter Jens. 1982-1984 beheerde hij de muziekhistorische collectie Jehle in kasteel Stauffenberg in Albstadt-Lautlingen. In 1982 richtte hij het Hildesheimer archief en gaf er leiding aan. Hij was archivaris, bibliograaf en uitgever van Wolfgang Hildesheimer. Het archief bevindt zich sinds 1993 in het archief van de Academie van Beeldende Kunsten, Berlijn. Sinds 1993 is Jehle ook actief als freelance schrijver en journalist. Uit het verhaal “Susanne” in zijn boek “Größerer Dachschaden” ontstond het gelijknamige toneelstuk. Voor zijn boek “Ulrike” schreef hij het scenario “Ulrike”, dat onder de titel” Komm, wir träumen!” werd verfilmd door Leo Hiemer. Sinds 2008 is Jehle werkzaam als wetenschappelijk beheerder van de muziekhistorische collectie Jehle in kasteel Stauffenberg.

Uit: Ulrike

“In Eckarts zweiter Woche hatte Porzig Urlaub. Alle atmeten auf.
Eckart nutzte die Gelegenheit, denn Ulrike saß zufällig ruhig bei ihrer Arbeit, näherte sich vorsichtig und erklärte, ihre Ausbruchsversuche seien jetzt sinnlos.
Sie sah ihn an, als habe sie ihn noch nie gesehen, zweifelnd und zögernd, machte wort­los eine ungeduldige Handbewegung, als wolle sie eine Fliege verscheuchen, und beachtete ihn nicht mehr.
Früher, sagt Eckart und lehnt sich zurück, habe er behauptet, nur wer durch diese Schule gelaufen sei, habe überhaupt etwas zu sagen. Heute sei er sich da nicht mehr sicher. Er spreche nicht mehr oft davon.
Aber da gebe es noch Mappen voll von Zetteln, Gemälden, Briefen, Fotos. Er habe keinen einzigen Fuzel weggeworfen.
Er höre aber sofort wieder auf, wenn ich noch einmal von so einer Scheiße wie dem wieder-
vereinigten Deutschland anfangen würde. Einer, er wisse genau wer, schreibe irgend­wo, „Heil Hitler!“ sei ein kategorischer Imperativ. In Wirklichkeit sei’s eine kategorische Vergeblichkeit. Die Mauer stehe noch, höher und breiter denn je.
Eckart tippt sich an den Kopf.
Neulich seien Tomek – ein Achtelsdeutscher, geboren nach dem Krieg in Sczcecin –, eine Deutsche – geboren vor dem Krieg in Stettin – und er – wider Willen ein Vertreter jener Idioten, die diesen Mist angerührt hätten – hinausgefahren zum toten Haff. Die Deutsche habe seit der Flucht ihr Heimatdorf zum ersten Mal besucht, Tomek habe sich als Dolmetscher zur Verfügung gestellt und er – Eckart – sei der Chauffeur gewesen.
Die alte Schule, das Haus des Großvaters, das Haus ihrer Eltern, Häuser der Kindheit, die geschnitzten Holztüren windschief, die Scheiben zerbrochen, die offenstehenden Keller bis unter die Decke voller Schutt und Gerümpel, die Gärten erledigt, viele Häuser überhaupt verschwunden, Baumaterial für die nahegelegene Fabrik, der Friedhof auch ver­schwunden, zugewachsen. Die Dorfstraße unter Bäumen öde, kein Bus, kein Auto, kein Mensch, nicht einmal ein Hund. Gespenstische Stille.
Plötzlich sei aus dem letzten Haus ein alter Mann gekommen und habe sich neben sie auf die Straße gestellt. Die ehemals weiße Jacke mangels Knöpfen offen, der Trommel­bauch von einem Kleidungsstück, das gewiß seit Monaten nicht abgelegt worden war, kaum bedeckt, die löchrige verkrustete Hose von breiten Trägern mühsam hochgeschnallt, der Hosenbund viel zu weit, ein freier Blick an der schmierigen Unterhose den Beinen entlang auf die ausgetretenen Latschen, im Gesicht lange weiße Stoppeln, und ein Zahn­verhau daß Gott erbarm, die rechte obere und linke untere Reihe weg, der Rest gelb und schwarz, in alle Richtungen.“

 
Volker Jehle (Balingen, 23 december 1954)