Sandro Veronesi

De Italiaanse schrijver Sandro Veronesi werd geboren in Florence op 1 april 1959. Zie ook alle tags voor Sandro Veronesi op dit blog.

Uit: XY (Vertaald door Michael von Killisch-Horn)

„Borgo San Giuda war nicht einmal mehr ein Dorf, es war ein Weiler. Vierundsiebzig Häuser, davon mehr als die Hälfte verlassen, eine Bar, ein Lebensmittelgeschäft und die Kirche mit ihrem Pfarrhaus – unverhältnismäßig groß im Vergleich zum Rest. Ende. Kein Zeitungskiosk, kein Friseur, keine Ambulanz, keine Grundschule; dafür und für alle anderen Errungenschaften der Zivilisation musste man nach Serpentina durch den Wald fahren oder nach Doloroso, nach Massanera, nach Gobba Barzagli, nach Fondo, nach Dogana Nuova oder geradewegs hinunter nach Cles. Doch es gab einen Schmied, Wilfred, der Riesenkräfte hatte und wie Mangiafuoco, der Puppenspieler aus Pinocchio, aussah, und einen Friedhof mit mehr als dreihundert Gräbern. Dort zu leben ergab keinen Sinn, doch wir lebten dort, wir waren dreiundvierzig, eigentlich zweiundvierzig, seit der alte Rezè gestorben war. Es war ein Ort, der so gut wie nicht existierte, und niemand wird jemals begreifen, warum das, was geschehen ist, gerade dort geschehen ist, wo nie etwas geschah.
Das Einzige, was im Winter in San Giuda geschah, war die Ankunft des Schlittens von Beppe Formento. Die Formentos waren eine der vier Familien von San Giuda – die mächtigste, könnte man sagen, wenn es nicht so lächerlich klänge. Sein Bruder und seine Schwester besaßen die Bar und das Lebensmittelgeschäft, und ihre Kinder waren die einzigen jungen Leute, die dort lebten. Die eine, Perla, Tochter von Rina, hatte der Biathlon-Nationalmannschaft angehört und auch eine Medaille im Staffellauf gewonnen; der andere, Zeno, Sohn von Sauro, war ein vielversprechendes Talent im Skispringen gewesen, doch dann hatte er damit aufgehört. Beppe Formento liebte Pferde und besaß ein Reitzentrum in der Nähe von Serpentina; im Sommer kamen Urlauber, um Pferde für Ausritte zu mieten, und im Winter gelang es Beppe im Rahmen der weißen Wochen, ein Dutzend Touristen pro Tag für eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten zu begeistern: Alte, Mütter und kleine Kinder, die den Prospekt in den Hotels der Region fanden und beschlossen, sich einen Ausflug wie im 19. Jahrhundert zu gönnen.”

 
Sandro Veronesi (Florence, 1 april 1959)