In Memoriam Urs Widmer

In Memoriam Urs Widmer

De Zwitserse schrijver Urs Widmer is gisteren op 75-jarige leeftijd overleden. Urs Widmer werd geboren op 21 mei 1938 in Basel. Zie ook alle tags voor Urs Widmer op dit blog.

Uit: Ein Leben als Zwerg

„Links ist ein Regal voller Bücher, gerade- aus ein Fenster, durch das ich so etwas wie einen Bambushain erahne – hie und da, selten, eine Amsel oder einen Spatz – , und rechts ein weiteres Regal mit roten, blauen oder gelben Ordnern. „Einnahmen“, „Ausgaben“, „Texte“, „Briefe“, „Verträge“. Ein Bild, das eine Siphonflasche zeigt, und ein anderes, auf dem ein Mann mit einer wie holzgeschnitzten Nase zu sehen ist. Gerümpel am Boden, der Grammophon zum Beispiel, der die Nadeln bräuchte, wäre er jemals in Betrieb, und ein Ständer mit zwei drei Dutzend 78-Touren-Platten. Ja, manchmal sitzt an dem Tisch der Mann, dem ich gehöre. Der mir gehört. Er ist mein Schicksal, ich bin seins. Ich weiss es, er nicht.
Wenn ich es nicht zweifelsfrei wüsste, ich würde es nicht glauben: dass dieser alte Mann mit seiner Glatze, seinem bizarren Haargewusel auf den Schädelseiten (Putzwolle oder sowas, grau), seinem Schnauz, seinen Tränensäcken unter den stierglotzenden Augen jener verwandelte Bub mit den schwarzen Wuschelhaaren und der hellen Stimme ist! Hätte ich nicht jeden Tag seiner Verwandlung miterlebt, ich schwöre bei Gott – Zwerge haben keinen Gott – dass der da ein ganz anderer ist. Keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Jungen, nicht so viel. Der da ist gewiss sterblich, das sieht ein Blinder. Seine Tage sind gezählt, die Wetten gehen nur noch, ob 300 oder 3000. Der kleine Junge wirkte durchaus so, als könnte er ewig bleiben. Ein Zwerg auch er, ein Riesenzwerg von allem Anfang an allerdings. Aber das blieb er nicht. Er wurde wahrhaftig ein Riese, ein durch die weite Welt pflügender Gigant, und tat Dinge, die mit mir gar nichts mehr zu tun hatten, obwohl er mich oft – später erst seltener – in seiner Hosentasche mitnahm. Mich zuweilen, mitten in seinem Erwachsenengetöse, heimlich mit den Fingern betastete. Er lärmte in Gaststätten herum und saß stundenlang in Flugzeugen. Trotzdem: ich war sein Liebling und bin es vielleicht immer noch. Warum sonst behielte er mich immer bei sich, in meinem Zustand!, während die andern Zwerge irgendwo in einer Schachtel auf einem Estrich verrotten oder längst in der Abfalltonne gelandet sind, niemand mehr weiß wann, wo, mein großer Bub nicht, und ich schon gar nicht.
Wer einen Zwerg der Müllabfuhr mitgibt, kann seinen Körper nicht töten; sein Herz sehr wohl. – „

 
Urs Widmer (21 mei 1938 – 2 april 2014)