Deutscher Buchpreis 2022 voor Kim de l’Horizon

Deutscher Buchpreis 2022 voor Kim de l’Horizon

De Zwitserse, genderfluïde niet-binaire dichter en schrijver Kim de l’Horizon is de winnaar van de Deutscher Buchpreis. Hij ontvangt de prijs voor zijn debuutroman “Blutbuch”. De jury van de boekenprijs oordeelde: «Met enorme creatieve energie zoekt het non-binaire verhalende personage uit Kim de l’Horizons roman Book of Blood naar zijn eigen taal. […] Welke verhalen zijn er voor een lichaam dat conventionele ideeën over gender tart? […] Elke poging tot taal, van de sculpturale scène tot de essay-achtige memoires, ontwikkelt een urgentie en literaire vernieuwing die de jury provoceerde en inspireerde.» Zie ook alle tags voor Kim de l’Horizon op dit blog.

Uit: Blutbuch

„Wir sprachen nie darüber, ob es für andere Familien auch so anstrengend ist, so zu tun, als wären sie wie die anderen Familien, wir sprachen nie über Normalität, nie über Heteronormativität, Queemess, wir sprachen nie über Klasse, die sogenannte »Dritte« Welt und die geheimen Geflechte der Pilze, die viel grösser und feiner sind als in unserer Vorstellung, wir sprachen nie über all die Wege, die diese Welt bereithält, die sie uns bereithält, um vor uns selbst davonzulaufen, die gewundenen Wege, die im Schatten grosser Pappeln liegenden Wege, die öden, endlosen Wege, die diese Welt umspinnen, wie ein Faden einen Fadenknäuel umspinnt, aber wir sprachen über die Wege, die alle zusammen »Jakobsweg« heissen.
Vor einigen Wochen sassen wir auf dem Sofa, du hast mir eines der Fotoalben gezeigt. Ich habe mich gezwungen, dasselbe Interesse vorzutäuschen wie die letzten zehn Male, als du mir dieselben Fotos mit denselben Kommentaren erläutert hast. Wir schauten uns ein Foto deiner Mutter an, auf dem sie schwanger mit dir ist, ein Foto, das mich die ersten Male überrascht hat, weil da einfach eine nackte Frau zu sehen ist, in einem kleinbürgerlichen Familienalbum von 1935. Plötzlich hast du deinen Redefluss unterbrochen, mich angeschaut und gefragt: »Warum bist du eigentlich nie da?«
Ich sitze hier an meinem Schreibtisch in Zürich, ich bin sechsundzwanzig, es wird langsam dunkel, es ist einer dieser Abende, die noch Winterabende sind, während mensch schon eine Vorahnung von Frühling riecht, ein samtiger Geruch: von Bodnant-Schneeballblüten, übertrieben süss und weissrosa; von Menschen, die wieder beginnen zu joggen und ihren Schweiss durch die viel zu sauberen Strassen tragen. Ich jogge nicht. Ich sitze hier und kaue meine Fingernägel, trotz des Ecrinal-Bitternagellacks, ich kaue, bis der weisse Rand abgekaut ist und noch weiter, ich dränge den weissen Rand beständig nach hinten. Vor einem halben Jahr habe ich diesen ultralangweiligen Job im Staatsarchiv angenommen, ich stecke den ganzen Tag zwischen Regalen tief unter der Erde, katalogisiere Krankenakten längst verstorbener Patientinnen, ich spreche mit niemenschem, bin zufrieden, bin unsichtbar, lasse meine Haare wachsen, gehe nach Hause und setze mich hierhin, an meinen Schreibtisch, von wo aus ich die Buche im Nachbargarten sehen kann, von wo aus mir die Erinnerungen an die Blutbuche kommen, unsere Blutbuche, die grosse, rotlaubige Buche in der Mitte unseres Gartens. Ich schreibe. Wenn meine Freundinnen Dina und Mo, die auch irgendwo sitzen und schreiben, mir schreiben: »Kommst du was trinken?«, dann schreibe ich nicht zurück. Ich versuche zu schreiben, und wenn ich nicht schreiben kann, wenn ich im Wattenmeer der Vergangenheit versinke, dann rasiere ich mich, dusche und fahre mit dem Fahrrad in die Aussenbereiche der Stadt, in die Aussenröcke, wie die Engländerinnen sagen, ich suche die Tankstellen und Fussballplätze ab, ich tigere vor den Gyms auf und ab, die Grindr-App ist meine bleiche Fackel in der Nacht der Agglomeration, sie weist mir den Weg zu den Männern, die ich suche, die ich brauche, die ich mich brauchen lasse, von denen ich mir hinter dem Fahrradhäuschen den Rock hochschieben lasse und die ich sich in mich hineinschieben lasse, schnell und gefühllos, ich habe ja genug Gefühle, ich brauche nicht noch mehr davon, ich brauche endlich mal einen harten cut von ihnen.“

 

Kim de l’Horizon (Ostermundigen, 9 mei 1992)

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