De Italiaanse schrijfster Susanna Tamaro werd geboren in Triëst op 12 december 1957. Zie ook alle tags voor Susanna Tamaro op dit blog.
Uit: Geh, wohin dein Herz dich trägt (Vertaald door Maja Pflug)
„Opicina, M. November 1992
Du bist vor zwei Monaten abgereist, und seit zwei Monaten habe ich, abgesehen von einer Postkarte, auf der du mir mitteilst, dass du noch lebst, keine Nachricht von dir. Heute Morgen bin ich im Garten lange vor deiner Rose stehen geblieben. Obgleich es schon Spätherbst ist, hebt sie sich mit ihrem Pur-purrot noch einsam und eitel von den ande-ren Pflanzen ab, die längst die Farbe verloren haben. Weißt du noch, wie wir sie gepflanzt haben? Du warst zehn Jahre alt und hattest gerade Der kleine Prinz gelesen. Ich hatte ihn dir als Belohnung für deine Versetzung geschenkt. Du warst von der Geschichte begeistert. Am liebsten von allen Gestalten hattest du die Rose und den Fuchs; den Affen-brotbaum, die Schlange, den Piloten und all die beschränkten, eingebildeten Menschen, die auf ihren winzigen Planeten sitzend durchs All schwebten, mochtest du dagegen nicht. So sagtest du eines Morgens beim Frühstück: »Ich will eine Rose.- Auf meinen Einwand, wir hätten doch schon so viele Ro-senstöcke, hast du geantwortet: »Ich will eine, die nur mir gehört, ich will sie pflegen, sie großziehen.. Natürlich wolltest du außer der Rose auch einen Fuchs. Mit der Schlau-heit der Kinder hattest du den einfachen Wunsch vor dem fast unerfüllbaren geäu-ßert. Wie sollte ich dir den Fuchs abschlagen können, nachdem ich dir die Rose zugestan-den hatte? Darüber haben wir lange gestrit-ten und uns schließlich auf einen Hund ge-einigt. In der Nacht bevor wir ihn holten, hast du kein Auge zugetan. Alle halbe Stunde hast du an meine Tür geklopft und gesagt: »Ich kann nicht schlafen.< Morgens um sie-ben warst du schon mit dem Frühstück fer-tig, gewaschen und angezogen; im Mantel bist du im Sessel gesessen und hast auf mich gewartet. Um halb neun standen wir vor dem Eingang des Tierheims, es war noch zu. Zwischen den Gittern hindurchspähend, sagtest du: »Woran werde ich merken, welcher genau der Richtige für mich ist?• Große Besorgnis lag in deiner Stimme. Ich beruhigte dich.
»Mach dir keine Sorgen., sagte ich, »denk daran, wie der Kleine Prinz den Fuchs gezähmt hat..
Drei Tage lang gingen wir immer wieder hin. Es gab mehr als zweihundert Hunde dort drinnen, und du wolltest sie alle sehen.
Du bliebst vor jedem Käfig stehen, regungslos und scheinbar unbeteiligt, in Gedanken versunken.“
Susanna Tamaro (Triëst, 12 december 1957)